Eine ganz neue Offense
Ausnahme-Running-Back Derrick Henry und der bisherige Head Coach Mike Vrabel sind weg - bei den Tennessee Titans hat der Umbau für die Zukunft begonnen. Die letzte Saison war eine einzige Enttäuschung, dennoch dürfte nicht jeder in Tennessee so richtig glücklich darüber sein, dass Henry und der bei Spielern und Fans durchaus beliebte Vrabel kein Teil dieser Zukunft mehr sein werden. Aber klar: Henry hat im Januar seinen 30. Geburtstag gefeiert, hat in allen fünf seiner Spielzeiten als durchgängiger Starter (binnen acht Jahren beim Club) die 1000-Yard-Marke locker übersprungen und war zweimal Top-Rusher der NFL. Dass er eine letzte Chance in Baltimore sucht, schnell zu einem Super-Bowl-Team zu gehören, versteht jeder.
Auch Vrabel kann sich nichts kaufen von der Erinnerung daran, dass die Titans dreimal unter seiner Leitung die Playoffs erreichten und bis zur Mitte der Saison 2022 noch klarer Spitzenreiter in der AFC South waren, ehe sie einen eigentlich sicheren vierten Trip in die Endrunde vertändelten. Im Postenkarussell des Winters um Führungspositionen ging er leer aus und wartet in einer Beraterfunktion in Cleveland wohl auf eine neue Chance. Den Karren der Titans in Nashville aus dem Dreck ziehen soll derweil der neue Cheftrainer Brian Callahan
Bevor er zu den Titans kam, war Callahan Offensive Coordinator bei den Cincinnati Bengals, keine schlechte Empfehlung. Vor seiner Zusammenarbeit dort mit Joe Burrow war Callahan Quarterbacks Coach bei Denver Broncos und Detroit Lions. Sein Vater Bill Callahan führte die Raiders 2002 als Head Coach in den Super Bowl und war auch in letzter Zeit als Offensive Line Coach - unter anderem von 2012 bis 2014 bei den Dallas Coyboys - höchst erfolgreich. Um nun für und unter seinem Sohn in Nashville zu arbeiten, stieg er aus einem langjährigen Vertrag in Cleveland aus.
Callahan Jr. hat eine lange Erfolgsgeschichte in der Arbeit mit Quarterbacks, Callahan Sr. weiß, wie man die Spielmacher beschützt, und Derrick Henry, der letztes Jahr noch für knapp 30 Prozent der Spielzüge der Ballträger war, ist weg. Die Erwartung ist also, dass sich der Fokus der Titans (letztes Jahr mit nur 55 Prozent an Pässen) mindestens bis in Richtung des Ligadurchschnitts von knapp 58 Prozent verschiebt. Zu Altstar DeAndre Hopkins, der letzte Saison 75 Pässe fing und es auch mit 32 Jahren weiter wissen will, gesellen sich dieses Jahr Calvin Ridley und Tyler Boyd als neue Anspielstationen. Neben Tight End Chigoziem Okonkwo sind auch die Receiver Nick Westbrook-Ikhine und Treylon Burks weiter dabei, die 2023 auf dem Feld aber wenig daraus machen konnten, dass Hopkins die Konzentration der Verteidiger auf sich zog.
Doch von wem werden die Pässe kommen? Callahan möchte einen frischen und innovativen Ansatz in die Offensivstrategie des Teams einbringen und setzt dabei auf Will Levis. Levis wurde in der zweiten Runde der Draft 2023 geholt und zeigte in seiner Rookie-Saison bereits vielversprechende Leistungen. Ein starker Wurfarm und eine gehörige Portion Physis halfen ihm, schon im ersten Jahr ebenso viele Pässe anzubringen wie Routinier Ryan Tannehill, der auf der Suche nach einem neuen Arbeitgeber ist. Levis' 149 Pässe brachten mehr Yards und mit acht doppelt so viele Touchdowns wie die von Tannehill, vor allem aber ließ er seltener Interceptions zu.
In der Reserve haben die Titans zudem noch Malik Willis, den sie 2022 in der dritten Runde gedraftet hatten. Und als Dritter im Bunde bekommt vielleicht auch Mason Rudolph seine nächste NFL-Chance. Im Trainingslager und der Preseason im August soll entschieden werden, ob Willis oder Rudolph die Nummer zwei hinter Levis werden, der zu Beginn als Starter gesetzt sein soll. Rudolph war seit 2018 Edelreservist in Pittsburgh, hat in dieser Zeit acht von 13 Spielen als einspringender Starter gewonnen, schaffte es aber nicht, sich bei den Steelers als Nachfolger von Legende Ben Roethlisberger durchzusetzen.
Nachgesagt wird Rudolph, sich schnell auf veränderte Situationen einstellen zu können. Nach sechs NFL-Jahren hauptsächlich auf der Bank bleibt aber offen, inwieweit er sich wirklich in ein anderes Team schnell einfinden und es eventuell sogar führen kann. Zumal in Tennessee nun nicht mehr wie in den letzten Jahren im Zweifel Verlass auf die Laufmaschine Derrick Henry ist. Die Leistung desjenigen, der in Henrys Fußstapfen tritt, wird entscheidend sein, auch ob den jungen Quarterbacks tatsächlich Zeit zur Entwicklung bleibt.
Prinzipiell wollten die Titans auf Tyjae Spears setzen, dessen 100 Läufe letztes Jahr schon Henry entlasteten. Dann aber griffen sie zu, als sich in der Transferperiode die Chance ergab, Tony Pollard aus Dallas zu holen. Pollard hatte in Texas, als Ezekiel Elliott noch da spielte, als junge Alternative mächtig überzeugt. Als sein Nachfolger langte es 2023 zwar knapp für mehr als 1.000 Yards und regelmäßig auch für das eine oder andere Big Play. Doch insgesamt fiel seine Ausbeute auf 4,0 Yards pro Lauf zurück, und ebenso wie bei Spears in Tennessee gab es Verletzungssorgen.
Überhaupt sind beide sich auch im Spielstil recht ähnlich. Nicht wenige hinterfragten denn auch, warum Pollard in Tennessee rund 22 Millionen Dollar für drei Jahre versprochen bekam (über 10 Millionen garantiert), die man in Dallas, wo man ihn aus Training, Spiel und Locker Room kennt, nicht zahlen wollte. Das Ziel mag sein, dass man im Verletzungsfall "eins zu eins" switchen kann. Optionen, auf verschiedene Spielsituationen unterschiedlich reagieren zu können, eröffnet man sich allerdings kaum. Beide betonen natürlich brav, dem anderen jede Unterstützung zukommen lassen und gemeinsam das Top-Duo der Liga werden zu wollen. Ob dies auf lange Sicht tatsächlich trägt, muss sich zeigen.
Und es hängt auch viel davon ab, ob Vater Callahan noch einmal den Zauberstab auspacken kann und der im letzten Jahr fürchterlich schwachen Offensive Line (64 kassierte Quarterback Sacks) schnell neues Leben einhauchen kann. JC Latham als Pick Nummer sieben der Draft kommt als Left Tackle, der erfahrene Lloyd Cushenberry III von den Denver Broncos als Center. Right Tackle Nicholas Petit-Frere schied letztes Jahr nach einer Schulterverletzung aus. Man hofft, dass die Genesung bis September vollständig abgeschlossen ist, muss man auch, denn mit den Ersatzleuten hat es 2023 eben nicht wirklich geklappt.
Von außen wirkt es auch vor allem vom Prinzip Hoffnung getragen, dass Rookie Latham, der im College Football auf der rechten Seite spielte, in der NFL auf Anhieb links mit der enormen Verantwortung, Quarterback Will Levis zu schützen, umgehen soll. Es gibt vor der Preseason zwei Erklärungsansätze für die Strategie dahinter: Entweder wissen die Coaches eben doch mehr über das Potenzial der Spieler in diesem Bereich. Oder sie warten auf die Erkenntnisse aus dem Trainingslager und lassen das Management dann aus den knapp 25 verfügbaren Millionen Dollar unter der Gehaltsobergrenze noch eine Last-Minute-Lösung finanzieren. Rein theoretisch sind mit D.J. Humphries aus Arizona oder sogar David Bakhtiari von den Green Bay Packers Top-Left-Tackles noch auf dem Markt und im Zweifel für Tennessee zumindest übergangsweise finanzierbar.
Auerbach - 30.07.2024
Receiver-Star DeAndre Hopkins bekommt in Tennessee ein neues Arbeitsumfeld. (© Getty Images)
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